NACKTER WAHNSINN


ÜBER DEN (IMMER NOCH) VERKLEMMTEN UMGANG MIT EROTISCHER KUNST

Von Katja Kraft

 

Weltkultur als Pornografie

Er ist fünf Meter groß, sehr schön und sehr nackt: Michelangelos David in der Galleria dell'Accademia in Florenz, eine der berühmtesten Statuen der Welt. Aber ist dieser Anblick elf- und zwölfjährigen Schulkindern zuzumuten? Im Frühjahr entschied Hope Carrasquilla, Leiterin einer christlich ausgerichteten Privatschule im US-Bundestaat Florida: Ja. Sie zeigte den nackten David im Kunstunterricht – und war ihren Job los. Polizisten führten sie vom Schulhof. Eltern hatten sich beschwert: Das Bildnis der Statue sei nicht altersgerecht, es handele sich um „pornografisches Unterrichtsmaterial“. Das Entsetzen über den Vorfall war vor allem in den sozialen Netzwerken groß. Ein Kollege der Schulleiterin startete eine Online-Petition gegen Carrasquillas Entlassung – ihm wurde ein Disziplinarverfahren angedroht, die Petition sofort entfernt.

Kunstfreiheit als Grundrecht Das hatten wir schon einmal: Da die römischkatholische Kirche Nacktheit als obszön wertete, wurden die Genitalien der David-Statue in der Renaissance lange durch Feigenblätter aus Metall verdeckt – doch das ist ein paar Jahrhunderte her. „Die Rückkehr des Feigenblattes ist unglaublich und sogar für das konservative Florida heftig. Wo würde das hinführen? Dann müssten wir ja die hier gezeigten Aktbilder von Lovis Corinth und Gustave Courbet oder gar die Wandmalereien aus Pompeji verpixeln. Das wäre der nackte Wahnsinn! Politik oder Religion dürfen Kunst nicht bevormunden.“ Dr. Christoph Kürzeder hat dies Anfang dieses Jahres in der Ausstellung „Verdammte Lust“ im Freisinger Diözesanmuseum, anschaulich und eindrucksvoll thematisiert. „Ich bin froh, dass die Kunstfreiheit im deutschen Verfassungsgefüge als vorbehaltlos gewährtes Grundrecht eine herausgehobene Stellung genießt. Hierzulande ist das Recht zur Kunstfreiheit, ebenso wie die Pressefreiheit, in Art. 5 Absatz 3 Satz 1 bis 3 des Grundgesetzes (GG) verankert“, so Katrin Stoll, geschäftsführende Gesellschafterin bei NEUMEISTER.

Kunstgeschichte ist Menschheitsgeschichte – und deshalb immer auch erotische Geschichte. Das wissen wir spätestens seit Pompeji. Wie frei im Geist man da war, wurde zuletzt Anfang 2021 klar, als man in Pompeji einen Triumphwagen mit erotischen Abbildungen ausbuddelte. Der Wagen wurde von der römischen Elite wohl für sinnenfrohe feierliche Anlässe verwendet. Erotische Darstellungen zierten in Pompeji Häuser und Gassen. Etwas verschämt werden Öllampen in Phallusform und weitere anstößige Funde aus Pompeji heute im Gabinetto Segreto, dem Geheimen Kabinett im Ärchäologischen Nationalmuseum von Neapel, versteckt – nicht ohne Warnhinweis für Eltern, religiöse und andere empfindliche Gemüter. Auf das niemand erröte. 

 

Geiger statt Phallus

Während Wohnräume in Pompeji freimütig mit wildesten Aktszenen ausgemalt wurden, haben lustvolle Sujets in den eigenen vier Wänden später einen schweren Stand. Erotische Kunst im heimischen Kontext zu präsentieren, ist für viele – 2.000 Jahre nach Pompeji – tatsächlich eine kontroverse Angelegenheit. Erblickt der aufgeklärte Freundeskreis den Riesen-Phallus überm Sofa, kann dessen Schrecksekunde dem Gastgeber durchaus das befriedigende Gefühl vermitteln, so eine Art mutiger Bohemien zu sein. Wenn allerdings die Schwiegermutter zu Besuch kommt, ist eine unschuldige Farbexplosion von Rupprecht Geiger doch wesentlich unproblematischer als so ein erotisches Feuerwerk. Meist wird es dann doch der Geiger.

 

Goustave Courbet, L’ Origine du Monde, 1866
Diese Bild ist NICHT in der Auktion!

Ursprung der Welt

Es ist überaus spannend zu sehen, wie sich die Freizügigkeit über die Jahrhunderte selbst innerhalb eines Kulturkreises ständig verändert hat. Was einst als kunstvoll erotisch galt, wurde auf einmal als abartig gebrandmarkt; dann wieder das, was zunächst in die Schmuddelecke verbannt war, als hohe Kunst entdeckt. Heute sind eigentlich keine Tabubrüche mehr möglich, heißt es oft. Doch wenn es um Erotik geht, gerät das Blut bei vielen in Wallung. Wie war das noch mal mit Gustave Courbets Gemälde „L’Origine du monde“ – Der Ursprung der Welt? Ein weiblicher Akt, aufs sehr Wesentliche reduziert: die behaarte Scham, gespreizte Beine. Gesicht, Hände, Füße blendet der Künstler aus. Er zelebriert den Ort, aus dem wir alle auf die Welt gekommen sind. Das weibliche Geschlecht, unverhüllt – das Natürlichste überhaupt also? Nein, die Bedenkenträger im Entstehungsjahr des Ölbildes 1866 witterten einen Skandal. Wo immer das Gemälde präsentiert wurde, wurde es versteckt hinter einem Vorhang oder einer Abdeckung aus Holz. Seit 1995 hängt es im Pariser Musée d’Orsay, sichtbar zwar, doch bewacht durch einen Sicherheitsmann. Und als das New Yorker Metropolitan Museum es 2008 in einer großen Gustave-Courbet-Retrospektive zeigte, mussten die Besucher es erstmal suchen. Ein Warnschild verwies auf die verstörende Wirkung auf Personen unter 18 Jahren – und man richtete vorsorglich einen Sonderraum für das böse Bild ein. Facebook sperrte 2011 gar den Beitrag eines Dänen, der ein Foto des Gemäldes gepostet hatte.

Swingtime

Oder die Sache mit dem Element6 in Wien. Das ist ein Swinger-Club – war aber 2010 auch eine erotische Kunstinstallation. Tagsüber konnte man dort den „Raum für Sexkultur“ besichtigen, abends ging es zur Sache. Der Schweizer Künstler Christoph Büchel hatte den Club für einige Wochen ins Museum verlegt. Der Aufschrei in den Feuilletons und der Politik war groß: Sex im Museum – ist das Kunst oder eine Sauerei? Christoph Büchel wusste wohl, dass man heute in Wien weitergehen muss als vor hundert Jahren, um zu provozieren. 100 Jahre früher war das anders. Seinerzeit sorgten die jungen wilden österreichischen Maler des Expressionismus allein mit ihren Bildern für Empörung. Egon Schiele (1890-1918) ist wohl einer der bekanntesten Provokateure, wenn es um erotische Kunst geht. Wie Gustav Klimt (1862 — 1918) oder auch Picasso (1881 — 1973) rebellierte er mit seinen Werken gegen die bürgerliche Moral. So wurden sie zu Wegbereitern von Andy Warhol oder Jeff Koons. Und es entstanden bedeutende Sammlungen erotischer Kunst. Die größte soll der Vatikan beherbergen.  

Der Zyklop Polyphem und die Nymphe Galateia liegen sich sinnlich in den Armen.
Fresko aus Pompeji, Archäologisches
Nationalmuseum Neapel.

O GALATEIA, SO WEISS WIE DAS BLATT SCHNEEHELLEN LIGUSTERS, BLÜHEND UND FRISCH WIE DIE AU, SO SCHLANK WIE DIE RAGENDE ERLE, GLÄNZEND WIE HELLER KRISTALL, SCHALKHAFT WIE DAS HÜPFENDE BÖCKLEIN, GLATT WIE VON STÄNDIGEM MEER AM STRANDE GEWASCHENE MUSCHELN.

POLYPHEM IN OVIDS METAMORPHOSEN

LOVIS CORINTH
LIEGENDER WEIBLICHER AKT
FAKTEN-CHECK
Von Dr. Monika Tatzkow
HIGHLIGHTS MODERNE
CONTEMPORARY ART