The Milk of Dreams

Ein Abstecher zur BIENNALE in Venedig


 

 

The Milk of Dreams: Der schöne Titel der diesjährigen Biennale Venedig basiert auf einem Kinderbuch von Leonora Carrington (1917-2911), in dem die surrealistische Künstlerin eine magische Welt beschreibt. Die Milch als Metapher für die elementare Bedeutung von Fantasie und Kreativität – und steckt in der Milch nicht alles, was wir in den ersten Monaten auf Erden zum Überleben benötigen? „Die Milch der Träume“ ist eine Schau, in der die Mütter allen Lebens im Zentrum stehen: Frauen.

Kuratorin Cecilia Alemani feiert Frauenpower am Canal Grande. Der Großteil der 213 Teilnehmer sind Frauen oder nonbinär, also keinem Geschlecht fest zugeordnet. Doch ohne dass darum viel Aufhebens gemacht wird. Erfrischend selbstverständlich startete die weltweit älteste Kunstausstellung im April 2022 mit einem Programm, in dem die künstlerischen Positionen von Menschen im Fokus stehen, die in der internationalen Szene sonst schon mal übersehen werden. Als wollte man etwas gerade rücken in dieser 59. Biennale-Ausgabe, die diesmal passenderweise in ein Jahr mit gerader Zahl fällt. Corona geschuldet – man hatte die Eröffnung um ein Jahr verschieben müssen und nicht wie sonst immer seit 1895 alle zwei Jahre loslegen können.

Textilarbeit „Vena Cava“ von Tau Lewis (Kanada)
Semitransparente Gemälde und Glas- Skulpturen mit Sand von Kapwani Kiwanga (Kanada/Frankreich)

Wer durch den zentralen Pavillon, das Arsenale und die nationalen Pavillons flaniert, spürt, dass nicht nur die vermaledeite Pandemie ihre Spuren hinterlassen hat. Zukunftsangst, Umweltzerstörung, überhaupt der menschliche Einfluss auf das, was ihn umgibt und am Leben hält, sein Verhältnis zur Technik, zu Maschinen, Transhumanismus; „Kunst kommt von Können“, heißt es – von Komödie war nie die Rede. Es sind düstere Themen, die in der schwimmenden Stadt verhandelt werden, die ja selbst stets mit ihrer Vergänglichkeit hadert, jede neue Wasserstandsmeldung ein Fingerzeig des Schicksals.

Die Dänen haben bekanntlich ein Händchen für besonders grausige Szenarien. Mit Uffe Isolotto provoziert in diesem Jahr ein (ausnahmsweise) männlicher Künstler die Besucher, sich einer mythologischen Grenzerfahrung zu stellen. Im Pavillon seines Landes hat er einen Pferdestall eingerichtet. Doch zwischen feuchten Heuhaufen liegt hier kein Tier, sondern ein Mischwesen. Halb Stute, halb Frau. Zwischen den Hinterläufen ein (totes?) Jungkalb samt Nachgeburt. Erschreckend echt wirkt das, abstoßend und faszinierend zugleich. „Du siehst etwas Schreckliches – das erfasst du sofort mit dem Bauch, bevor du es mit dem Verstand erfassen kannst“, sagt der Künstler selbst. Es ist ein albtraumhaftes Szenario, in dem Urängste, die die Mythen und Legenden immer auch behandeln, getriggert werden. Die Milch der Träume, manchmal ist sie abgestanden und säuerlich. Wer sie trinkt, muss aufstoßen. Zu bekömmlich soll es auch auf dieser Biennale nicht zugehen, die immer Gradmesser ist für das, was in der Kunstwelt vor sich geht – und damit ein Abbild gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen.

 

 

Skulpturen aus Metallstruktur und Lehm von Gabriel Chaile (Argentinien/Portugal)
Arbeit von Emma Talbot (London) mit dem Titel „Why Do We Think We Can Outwit Nature?”

Rassismus, Ausgrenzung, Chauvinismus, Unterdrückung unerwünschter Kulturen – auch das sind Themen, die in Venedig noch bis 27. November verhandelt werden. Zum ersten Mal stellt mit Malgorzata Mirga-Tas eine Roma im Polnischen Pavillon aus. Im französischen wirkt erstmals eine arabische Künstlerin berberischer Herkunft: Zineb Sedira präsentiert ihre Auseinandersetzung mit dem Titelthema, in Anlehnung daran nennt sie sie „Les rêves n'ont pas de titre / Dreams have no Titles“. Oder Precious Okoyomon, für viele ist ihre Installation „To see the Earth before the End of the World" einer der Höhepunkte der Kunstschau. Auf den ersten Blick wirkt der Garten, den die 1993 in London geborene Künstlerin im Arsenale angelegt hat, zauberhaft idyllisch. Doch die gesichtslosen Figuren aus Wolle und Blutstropfen, die die Besucher kritisch beäugen, lassen erahnen, dass es nicht ganz so hübsch und friedlich ist, wie es scheint. Ein Garten Eden, in dem eine Schlange schon nach dem nächsten Opfer züngelt. Okoyomon hat mit Zuckerrohr und Kudzu-Pflanzen gearbeitet – Sinnbild für den Sklavenhandel, der eng mit beidem verbunden war.

Maria Eichhorn, die den deutschen Pavillon gestaltet hat, begann einst im Lenbachhaus in München ihre Recherche zu Kunstwerken, die in der NS-Zeit aus jüdischem Besitz entwendet wurden – ein Thema, das sie mit ihrem Biennale-Auftritt fortführt. In „Relocating a Structure“ hat die Berliner Künstlerin den kleinen Ursprungsbau in Venedig, den Bayerischen Pavillon von 1909, freilegen lassen. Den Putz hat sie abgeschlagen, den Boden aufgerissen. 1938 hatten die Nationalsozialisten den Bau zu seiner heutigen Form erweitert – Eichhorn reißt deren Allmachtsansprüche im wahren Sinne des Wortes wieder ein.

Hochaktuell auch der russische Pavillon, der – gar nicht stattfindet. Und dann wieder doch. Im Boykott liegt die Botschaft, die Künstlerin Alexandra Sukhareva, Künstler Kirill Savchenkov und Kurator Raimundas Malašauskas in die Welt senden wollen. Wegen des Kriegsausbruchs in der Ukraine sagten die drei ihre Teilnahme an der Biennale ab. Ein Land zu vertreten, das ein anderes militärisch angreift – es widerspricht ihrer pazifistischen Grundhaltung.

Metall-Objekte von Ruth Asawa (USA) in der „Time Capsule IV“
Großformatige Skulptur von Simone Leigh (USA), Gewinnerin des Goldenen Löwen 2022

Was wäre eigentlich, wenn nicht vor allem Männer, sondern mehr Frauen an den Hebeln der Macht säßen? Wäre die Welt eine friedlichere? Das fragt man sich, wenn man beim Pavillon der Vereinigten Staaten von Amerika ankommt. Typisch USA, ist hier alles eine Nummer größer. Außen eine überdimensionale Skulptur, schwarz; ein weibliches Totem? „Satellite“ (2022) heißt das Werk, das wirkt wie eine Huldigung des Matriarchats, gleichzeitig ein selbstbewusstes Zeichen für die schwarze Community ist, für die sich die afroamerikanische Künstlerin mit ihren Arbeiten immer wieder einsetzt. Innen watet eine gebeugte Wäscherin jamaikanischer Herkunft aus Bronze in einem Wasserbecken. Bewusst spiegelt Simone Leigh, deren Eltern selbst einst aus Jamaika in die USA übersiedelten, hier koloniale Stereotype. Der Schwarze als Dienender, Geknechteter – ein Bild, das noch immer in vielen Köpfen gerade (jedoch nicht nur) in der US-amerikanischen Gesellschaft festhängt. Im Wasser schimmert der Himmel, doch man spürt: Der (amerikanische) Traum von Freiheit, er wird für diese Frau immer ein Traum bleiben.

Oder nicht? Träume sind Schattenspiele unserer Fantasie. Ein gedanklicher Probelauf unserer größten Wünsche. Was wir nicht zu träumen wagen, wird selten Wirklichkeit. „Die Milch der Träume“ - in Venedig kommt man auf den Geschmack. Und glaubt für einen Moment, dass alles möglich ist.

Die Arbeiten„Sphinx“ und „Cupboard“ von Biennale-Star Simone Leigh (USA)
Installation von Uffe Isolotto im Dänischen Pavillon

Impressionen von der 59. Biennale

 

Bei NEUMEISTER werden immer wieder Werke von Künstlern versteigert, die an der Biennale in Venedig teilgenommen haben, aktuell zum Beispiel Walter Pichler. Der Künstler, der 1982 den österreichischen Beitrag für -die Biennale lieferte, ist bei NEUMEISTER mit drei Zeichnungen vertreten.

In der Sommerauktion werden zudem Kunstwerke venezianischer Altmeister und solche mit Bezug zu Venedig aufgerufen. LOTS der Extraklasse sind ein Gemälde aus Paolo Veroneses Werkstatt und eine Zeichnung Giovanni Domenico Tiepolos (siehe Seite xy). Mit drei Murano-Vasen – darunter eine kostbare „Laguna Gemmata“-Vase, von Ferro Toso Barovier aus den 1930er Jahren –fügt sich das Kunsthandwerk allerdurchlauchtigst in das Themenfeld von La Serenissima ein.

VENEZIANISCHE MOMENTE IN MÜNCHEN

Xetail xer Giebelfiguren des Aphaia-Tempels

DEN TAG VOR SICH HINPLÄTSCHERN LASSEN
kann man bei einer Gondelfahrt in Schloss Nymphenburg. Es ist ein wenig wie damals, als sich die höfische Gesellschaft solch barocke Lustbarkeit hingab. Denn, ja, das alles hat Tradition: Bis zu 80 Gondeln und Prunkboote fuhren unter Kurfürst Maximilian II. Emanuel (1662 – 1726) im Schlosskanal. Zahlreiche venezianische Gondoliere und Gondelbauer lebten damals in München (www.gondel-nymphenburg.de). Fahrten mit original venezianischen Gondeln sind auch in Schleißheim möglich – in den Abendstunden nach Schließung des Schlossparks und wahlweise mit italienischem Picknick (www.la-gondola-barocca.de). Tipp: Im Deutsche Museum lässt sich eine prächtige Gondel aus Venedig bewundern.

UND WARUM NICHT MAL CICCHETTI GENIESSEN,
die venezianische Tapas. L’Oca Bianca, Münchens erste venezianische Cicchetteria, ist dafür ein passende Adresse – und ein beliebte Aperitivo-Treffpunkt im Westend (www.locabianca.de).

UND WIE VERSÜSST
man sich sonst noch den venezianischen Sommerabend? Ganz klar: mit einem Bellini. Gastwirt Giuseppe Cipriani – Gründer der legendären Harry’s Bar in Venedig – erfand den Drink, der nur zwei wichtige Zutaten enthält: Weinbergpfirsich und Champagner (oder Prosecco). Gibt es in jeder besseren Münchner Bar. Und schmeckt – hach! – nach bella Italia!

WER EIN KUNSTVOLLES STÜCK VENEDIG
in München erleben möchte, muss nicht zur Biennale fahren. Das Kollektiv Dumm Type etwa, das dort den Japanischen Pavillon mit Laserschrift bespielt, kann man bis zum 11. September auch im Münchner Haus der Kunst kennenlernen.

DIE AUSSTELLUNG
„Venedig. La Serenissima“ in der Staatlichen Graphischen Sammlung in der Pinakothek der Moderne ist leider schon vorbei. Wer die Schau verpasst hat, schwelgt im aufwendig gestalteten Katalog, in dem Arbeiten aus vier Jahrhunderten von Tintoretto, Tizian und Co. gefeiert werden. Erschienen im Deutschen Kunstverlag, 352 Seiten, 62 Euro.

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