- Bedeutende Glasscheibe

Auktion 372, Kat.-Nr. 111

ALTE KUNST & SCHMUCK am 5./6. Juli 2016

 

Bedeutende Glasscheibe

Schätzpreis:
€ 30.000 bis € 50.000

Differenzbesteuerung    

Ergebnis:
€ 95.250 (inkl. 27 % Käuferaufgeld)

Beschreibung:

Bedeutende Glasscheibe

Straßburg, um 1270, wohl ehemals aus St. Thomas

 

Polychrome Bleiverglasung mit Schwarzlotmalerei; Messingrahmen. Sehr guter Erhaltungszustand; teils erneuertes, teils mit Blei überdecktes Bleinetz; wenige Ergänzungen im oberen Bereich Bleiverglasung ca. 47,5 x 53,4 cm; Außenmaß Rahmung 49,6 x 55,8.

 

Sechspassförmiges, von Palmettenband gerahmtes Bildfeld mit der Darstellung der Fesselung eines mit kurzer Tunika und Mütze Bekleideten durch einen Mann mit runder Kappe und langem Gewand an einen Baum. In dessen Krone das Schriftband "IOAB ET ACHIOR".

Teppichgrund aus gelben und grünen Rauten mit Blüten, seitlich eingefasst von weißem Band mit Perlstab. Rahmung aus roten und blauen Blattornamenten. Sehr qualitätvolle, detaillierte Binnenmalerei.

 

 

 

 

Thematisch gehört vorliegende Glasscheibe zum Typus des Bibelfensters, das in typologischer Gegenüberstellung die Heilsgeschichte veranschaulicht und seinen Platz an hierarchisch prominenter Stelle an der Chorachse hatte. Erstmalig nachweisbar ist dieser Fenstertypus wohl in dem 1248 begonnenen Chor des Kölner Domes. Wie Brinkmann (S. 338) feststellt, folgten die Darstellungen hochmittelalterlicher deutscher Bibelfenster dabei keinem feststehenden Kanon, vielmehr lag ihnen wohl jeweils eine Auswahl aus typologischen Schriftsammlungen zugrunde. Die ungewöhnliche - biblisch nicht nachweisbare - Darstellung des Joab, Feldherr Davids, zusammen mit dem Ammoniteranführer Achior beruht hier möglicherweise auf einer Vermengung verschiedener Tituli (vergleichbares Beispiel bei Brinkmann, S. 185 Anm. 602). Nach der Juditerzählung (Jdt 6,13) wurde der in Ungnade gefallene Achior auf Befehl des Holofernes an die Israeliten ausgeliefert und gefesselt, ehe später er zum Judentum konvertierte. Typologisch wurde seine Fesselung auf die Geißelung Christi bezogen, wie etwa das um 1280 entstandene jüngere Bibelfenster im Kölner Dom zeigt.

 

In Komposition und Abmessungen gehört vorliegende Glasscheibe mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem Bestand von elf Scheiben mit alt- und neutestamentlichen Darstellungen im Kontext typologischer Bibelfenster, die heute im Musée de lOeuvre de Notre-Dame in Straßburg, im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart und in der Burrell Collection in Glasgow aufbewahrt werden und deren Provenienz aus Straßburger Besitz weitgehend bis in die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts nachweisbar ist (vgl. Gatouillat, S. 101).

Die ursprüngliche Lokalisierung dieser Scheiben nach St. Thomas bzw. der ehem. Dominikanerkirche in Straßburg wie auch die Rekonstruktion ihres Gesamtzusammenhangs wurde in der Literatur unterschiedlich diskutiert. Der jüngst erschienene Aufsatz von Hartmut Scholz revidiert die bisherige Forschung und kommt zu dem Ergebnis eines dreibahnigen typologischen Scheitelfensters in dem um 1270 neu errichteten Chor der Straßburger Thomaskirche, der 1777 anlässlich der Errichtung eines Mausoleum für Marschall Hermann Moritz von Sachsen (+ 1750) vermauert wurde.

Angebracht war die Fesselung Achiors in horizontaler Gegenüberstellung wohl zusammen mit der in Straßburg erhaltenen Versuchung Hiobs als Typus zu einer mittigen Bildscheibe mit der Geißelung Christi, wie in dem hochmittelalterlichen typologischen Kompendium der "Rota in medio rotae" aufgeführt (Röhrig II, S. 61: 48,3).

Vorliegende, bislang offenbar unbekannte, qualitativ hochstehende Glasmalerei dürfte somit eine der Lücken der frühen typologischen Glasmalerei schließen.

 

Vgl. Röhrig, Floridus, Rota in medio rotae. Forschungen zur biblischen Typologie des Mittelalters, 2 Bde., ungedr. Diss. Univ. Wien 1960. - Gatouillat, Francoise, La verrerie typologique de la première église des Dominicains de Strasbourg, in: Glas. Malerei. Forschung. Internationale Studien zu Ehren von Rüdiger Becksmann, hg. von Hartmut Scholz, Daniel Hess und Ivo Rauch. Berlin 2004, S. 101 - 107. - Brinkmann, Ulrike, Studien zu den deutschen Bibelfenstern des 13. und beginnenden 14. Jahrhunderts. Köln 2008, S. 177ff. - Scholz, Hartmut, Dem leuchtenden Beispiel der Dominikaner folgend? Zur Gestalt des typologischen Bibelfensters der Thomaskirche in Straßburg, in: "Licht(t)räume". Festschrift für Brigitte Kurmann-Schwarz, Petersberg 2016, S. 206-214.

 

Wir danken Dr. Hartmut Scholz sowie Dr. Uwe Gast, Corpus Vitrearum Deutschland, Forschungszentrum für mittelalterliche Glasmalerei Freiburg, für die freundliche Unterstützung im Rahmen der Katalogisierung.

 

 

 

 

Werkverzeichnis: wohl 1950er Jahre Kunsthandel, Paris. - Privatsammlung, Graz/Österreich. - seit 2009 Privatsammlung Österreich. Art Loss Register Zertifikat vom 09.03.2016.



Datierung:
um 1270, wohl ehemals aus St. Thomas


Zustand:
Bleiverglasung ca. 47,5 x 53,4 cm; Außenmaß Rahmung 49,6 x 55,8
Werkverzeichnis:
wohl 1950er Jahre Kunsthandel, Paris. - Privatsammlung, Graz/Österreich. - seit 2009 Privatsammlung Österreich. Art Loss Register Zertifikat vom 09.03.2016.
Kommentar:
Thematisch gehört vorliegende Glasscheibe zum Typus des Bibelfensters, das in typologischer Gegenüberstellung die Heilsgeschichte veranschaulicht und seinen Platz an hierarchisch prominenter Stelle an der Chorachse hatte. Erstmalig nachweisbar ist diese