Giovanni Domenico Tiepolo - Nessos und Deïaneira

Auktion 405, Kat.-Nr. 259

SOMMERAUKTION

am 29. Juni 2022

Giovanni Domenico Tiepolo

Nessos und Deïaneira

Schätzpreis:
€ 10.000 bis € 12.000

Differenzbesteuerung    

Ergebnis:
€ 31.200 (inkl. 30 % Käuferaufgeld)

Beschreibung:

Giovanni Domenico Tiepolo

1727 Venedig - 1804 ebenda

 

Nessos und Deïaneira

 

 

R. u. signiert "Dom. Tiepolo f", l. o. nummeriert 61. Rücks. Nummerierung 409. Feder und Pinsel in Braun, laviert, auf Bütten. 19,5 x 27,5 cm. Mit Japanpapier angerändert. Min. fleckig. Rahmen (41 x 50 cm).

 

Der Kentaur Nessos tat am Fluss Lykormas Fährdienste. Als Herakles mit seiner Gemahlin Deïaneira den Fluss überqueren wollte, trug Nessos diese durch das Wasser. Als er sich an der jungen Schönheit vergriff, eilte Herakles zu Hilfe und tötete Nessos mit einem Giftpfeil.

 

Giovanni Domenico Tiepolo interpretiert diese Szene aus der antiken Mythologie mit großer künstlerischer Freiheit. Das Hauptaugenmerk des Künstlers liegt auf der bewegten Darstellung des vor Kraft strotzenden Nessos, der die sich heftig wehrende Deïaneira zu entführen versucht. Die Szene spielt sich in einer idyllischen norditalienischen Landschaft ab, im Mittelgrund ist die Silhouette einer kleinen Stadt erkennbar, Pinien und Zypressen flankieren eine breite Landstraße, auf der in gewisser Entfernung zwei Personen zu erkennen sind.

 

Giovanni Domenico Tiepolo, einer der berühmtesten venezianischen Künstler des 18. Jahrhunderts, war ein unermüdlicher Zeichner. Seine Blätter waren bereits bei den zeitgenössischen Sammlern sehr begehrt. Adelheid M. Gealt bezeichnet in ihrer Stellungnahme das vorliegende Blatt als "a particularly fine example" aus einer umfangreichen Serie von Zeichnungen Tiepolos, in welcher er sich mit der Darstellung von Kentauren befasste. James Byam Shaw, der große Kenner der Zeichnungen unseres Künstlers, sah in diesen Darstellungen seine "most delightful and original mythological subjects" (Byam Shaw, s. u., S. 41). Tiepolo scheint das Thema der Kentauren sehr geschätzt zu haben, nach Cailleux Zusammenstellung von 77 vergleichbaren Blättern im Jahre 1974 konnte Gealt 2016 weitere 29 Zeichnungen des Sujets dem Themenkomplex hinzufügen.

 

Auf dem vorliegenden Blatt sehen wir eines der bevorzugten Bewegungsmotive Tiepolos: der muskulöse Nessos, von hinten gesehen, seine kräftigen Arme umklammern das unglückliche Opfer seiner Attacke. Eine Szene, der sich der Künstler - stets variierend - mehrmals gewidmet hat. Als Beispiel für die motivische Kontinuität aber auch Variation verweist Gealt auf eine Zeichnung, die erst jüngst versteigert wurde (Auktion Tajan, Paris, 16. Dezember 2021, Kat.-Nr. 7). Diese "Entführung der Deïaneira" zeigt die Gruppe der Hauptfiguren spiegelbildlich, mit sehr vergleichbarer Darstellung des Nessos. Dennoch variiert Tiepolo auf spielerische Weise: Während Nessos auf unserem Blatt in energischer Bewegung gegeben wird, er in die Landschaft hineinsprengt, hält er bei der erwähnten Vergleichszeichnung in der Bewegung inne und ist bemüht, Deïaneira (hier von vorne gezeigt) die sich mit beiden Armen gestikulierend wehrt, zu halten.

 

Ein in unserem Kontext hochinteressantes Blatt des British Museum, London (Inv.-Nr. 1885,0509.7) zeigt einen Kentauren, der auf seinem Rücken eine Satyrfrau trägt. Der Kentaur entspricht wiederum spiegelbildlich dem Nessos unserer Zeichnung, aber im Gegensatz zu Deïaneira, die schließlich Opfer einer Entführung ist, schmiegt sich das Satyrweibchen liebevoll an den Pferdemenschen, der ihr seinen Oberkörper zuneigt. Fast könnte man von einem Gegenstück sprechen: hier der dramatische Raub einer menschlichen Frauengestalt, dort liebevolles Miteinander mit einem halbtierischen Mischwesen. Von gewisser Bedeutung könnte in diesem Zusammenhang auch die Nummerierung des Londoner Blattes sein: Es trägt links oben die Nummer "62", unsere Zeichnung ist "61" nummeriert. Es ist verlockend, zu unterstellen, dass die Nummerierungen vom Künstler selbst aufgebracht worden sind und wir hier die künstlerische Absicht Tiepolos wiedergespiegelt finden, Deïaneira und den weiblichen Satyr in ihrem Verhalten bewusst zu vergleichen bzw. zu kontrastieren. Als andere Möglichkeit sieht Gealt aber auch die Nummerierung der Zeichnungen nach dem Tod des Künstlers durch seine Erben (seine Witwe), die sie an Sammler verkauften. Oder aber, als dritte Erklärung: Erst ein Sammler hat den reizvollen thematischen Zusammenhang erkannt und die Blätter selbst mit aufeinander folgenden Nummern versehen.

 

Den Beginn von Giovanni Domenicos extensiver Beschäftigung mit dem Thema "Kentauren - Satyrn - Faune" könnte man zeitlich - aufgrund thematischer Parallelen - mit der Arbeit an den Fresken in der Villa Zianigo (ab 1757) festlegen. Der selbständige Kunstwerkscharakter der Zeichnungen spricht aber gegen eine Zuordnung zu einem bestimmten Projekt und so hat sich die Wissenschaft darauf verständigt, den Beginn dieser an die hundert Blätter umfassenden Serie mit der Rückkehr von Vater und Söhnen Tiepolo vom großen Würzburger Auftrag gleichzusetzen (1753). Bis in die 1790er Jahre scheint sich Giovanni Domenico Tiepolo dann mit dem Thema Kentauren und Satyrn beschäftigt zu haben

 

Vgl. Byam Shaw, James, The Drawings of Domenico Tiepolo. London 1962. - Cailleux, Jean, Domenico Tiepolo: Centaurs, Fauns, Female Fauns and Satyrs among the drawings of Domenico Tiepolo, in: LArt du Dix-huitième siècle. Supplement des Burlington Magazine, Bd. CXVI, Juni 1974. - Gealt, Adelheid M. (Hg.), Giambattista and Domenico Tiepolo. Master Drawings from the Anthony J. Moravec Collection. Eskenazi Museum of Art, Indiana University, Bloomington 2016.

 

Wir danken Prof. Adelheid M. Gealt, Indiana University, Bloomington, Indiana, für Ihre großzügige Unterstützung im Rahmen der Katalogisierung. Als Datei liegt eine Stellungnahme Gealts vom 12. Mai 2022 vor, die ergänzt wird von einer Zusammenstellung verschiedener Vergleichszeichnungen.

 

 

 

 

 

 

Provenienz: Süddeutscher Privatbesitz.



Signatur-Bez-Vorne:
R. u. signiert "Dom. Tiepolo f", l. o. nummeriert 61
Signatur-Bez-Recto:
Rücks. Nummerierung 409
Technik:
Feder und Pinsel in Braun, laviert,
Träger:
auf Bütten
Maße:
19,5 x 27,5 cm
Zustand:
Mit Japanpapier angerändert. Min. fleckig
Rahmen:
Rahmen (41 x 50 cm)
Provenienz:
Süddeutscher Privatbesitz.
Kommentar:
Giovanni Domenico Tiepolo interpretiert diese Szene aus der antiken Mythologie mit großer künstlerischer Freiheit. Das Hauptaugenmerk des Künstlers liegt auf der bewegten Darstellung des vor Kraft strotzenden Nessos, der die sich heftig wehrende Deïaneira zu entführen versucht. Die Szene spielt sich in einer idyllischen norditalienischen Landschaft ab, im Mittelgrund ist die Silhouette einer kleinen Stadt erkennbar, Pinien und Zypressen flankieren eine breite Landstraße, auf der in gewisser Entfernung zwei Personen zu erkennen sind. Giovanni Domenico Tiepolo, einer der berühmtesten venezianischen Künstler des 18. Jahrhunderts, war ein unermüdlicher Zeichner. Seine Blätter waren bereits bei den zeitgenössischen Sammlern sehr begehrt. Adelheid M. Gealt bezeichnet in ihrer Stellungnahme das vorliegende Blatt als "a particularly fine example" aus einer umfangreichen Serie von Zeichnungen Tiepolos, in welcher er sich mit der Darstellung von Kentauren befasste. James Byam Shaw, der große Kenner der Zeichnungen unseres Künstlers, sah in diesen Darstellungen seine "most delightful and original mythological subjects" (Byam Shaw, s. u., S. 41). Tiepolo scheint das Thema der Kentauren sehr geschätzt zu haben, nach Cailleux Zusammenstellung von 77 vergleichbaren Blättern im Jahre 1974 konnte Gealt 2016 weitere 29 Zeichnungen des Sujets dem Themenkomplex hinzufügen. Auf dem vorliegenden Blatt sehen wir eines der bevorzugten Bewegungsmotive Tiepolos: der muskulöse Nessos, von hinten gesehen, seine kräftigen Arme umklammern das unglückliche Opfer seiner Attacke. Eine Szene, der sich der Künstler - stets variierend - mehrmals gewidmet hat. Als Beispiel für die motivische Kontinuität aber auch Variation verweist Gealt auf eine Zeichnung, die erst jüngst versteigert wurde (Auktion Tajan, Paris, 16. Dezember 2021, Kat.-Nr. 7). Diese "Entführung der Deïaneira" zeigt die Gruppe der Hauptfiguren spiegelbildlich, mit sehr vergleichbarer Darstellung des Nessos. Dennoch variiert Tiepolo auf spielerische Weise: Während Nessos auf unserem Blatt in energischer Bewegung gegeben wird, er in die Landschaft hineinsprengt, hält er bei der erwähnten Vergleichszeichnung in der Bewegung inne und ist bemüht, Deïaneira (hier von vorne gezeigt) die sich mit beiden Armen gestikulierend wehrt, zu halten. Ein in unserem Kontext hochinteressantes Blatt des British Museum, London (Inv.-Nr. 1885,0509.7) zeigt einen Kentauren, der auf seinem Rücken eine Satyrfrau trägt. Der Kentaur entspricht wiederum spiegelbildlich dem Nessos unserer Zeichnung, aber im Gegensatz zu Deïaneira, die schließlich Opfer einer Entführung ist, schmiegt sich das Satyrweibchen liebevoll an den Pferdemenschen, der ihr seinen Oberkörper zuneigt. Fast könnte man von einem Gegenstück sprechen: hier der dramatische Raub einer menschlichen Frauengestalt, dort liebevolles Miteinander mit einem halbtierischen Mischwesen. Von gewisser Bedeutung könnte in diesem Zusammenhang auch die Nummerierung des Londoner Blattes sein: Es trägt links oben die Nummer "62", unsere Zeichnung ist "61" nummeriert. Es ist verlockend, zu unterstellen, dass die Nummerierungen vom Künstler selbst aufgebracht worden sind und wir hier die künstlerische Absicht Tiepolos wiedergespiegelt finden, Deïaneira und den weiblichen Satyr in ihrem Verhalten bewusst zu vergleichen bzw. zu kontrastieren. Als andere Möglichkeit sieht Gealt aber auch die Nummerierung der Zeichnungen nach dem Tod des Künstlers durch seine Erben (seine Witwe), die sie an Sammler verkauften. Oder aber, als dritte Erklärung: Erst ein Sammler hat den reizvollen thematischen Zusammenhang erkannt und die Blätter selbst mit aufeinander folgenden Nummern versehen. Den Beginn von Giovanni Domenicos extensiver Beschäftigung mit dem Thema "Kentauren - Satyrn - Faune" könnte man zeitlich - aufgrund thematischer Parallelen - mit der Arbeit an den Fresken in der Villa Zianigo (ab 1757) festlegen. Der selbständige Kunstwerkscharakter der Zeichnungen spricht aber gegen eine Zuordnung zu einem bestimmten Projekt und so hat sich die Wissenschaft darauf verständigt, den Beginn dieser an die hundert Blätter umfassenden Serie mit der Rückkehr von Vater und Söhnen Tiepolo vom großen Würzburger Auftrag gleichzusetzen (1753). Bis in die 1790er Jahre scheint sich Giovanni Domenico Tiepolo dann mit dem Thema Kentauren und Satyrn beschäftigt zu haben Vgl. Byam Shaw, James, The Drawings of Domenico Tiepolo. London 1962. - Cailleux, Jean, Domenico Tiepolo: Centaurs, Fauns, Female Fauns and Satyrs among the drawings of Domenico Tiepolo, in: LArt du Dix-huitième siècle. Supplement des Burlington Magazine, Bd. CXVI, Juni 1974. - Gealt, Adelheid M. (Hg.), Giambattista and Domenico Tiepolo. Master Drawings from the Anthony J. Moravec Collection. Eskenazi Museum of Art, Indiana University, Bloomington 2016. Wir danken Prof. Adelheid M. Gealt, Indiana University, Bloomington, Indiana, für Ihre großzügige Unterstützung im Rahmen der Katalogisierung. Als Datei liegt eine Stellungnahme Gealts vom 12. Mai 2022 vor, die ergänzt wird von einer Zusammenstellung verschiedener Vergleichszeichnungen.