ERNST LUDWIG KIRCHNER

ALP

TRAUM


Von NEUMEISTER-Expertin Susanne Richter M. A.

Mit unserer „Stafelalp“ kommt bei der März-Auktion eine außergewöhnliche Arbeit Ernst Ludwig Kirchners zum Aufruf. Das 1918 in den Schweizer Bergen bei Davos entstandene Blatt ist ein wunderbares Beispiel für die Abkehr des Expressionisten von der Großstadt und seiner Hinwendung zu den Bergen, in denen Kirchner Ruhe und neue Kraft findet.


 


 

ERNST LUDWIG KIRCHNER
1880 Aschaffenburg - 1938 Davos

 

 STAFELALP. UM 1918 

 Aquarell
Blattgröße: 45 × 60 cm

AUKTION 408 // LOT 1509
SCHÄTZPREIS € 60.000  – 80.000

Kirchner benennt seine Erlebnisse beim Militär im Ersten Weltkrieg selbst als Beginn seiner Misere. Er meldet sich als „unfreiwilliger Freiwilliger“ zum Militärdienst, erlebt den Krieg zwar nicht als Soldat, doch der Drill traumatisiert ihn. Nach einem Nervenzusammenbruch wird er zunächst beurlaubt, schließlich als dienstuntauglich entlassen. Die Gedanken an die Schrecken des Krieges und wohl auch die Angst davor, doch noch als Soldat eingezogen zu werden, verzehren ihn. Er lebt weitgehend von Zigaretten, Alkohol und dem Schlafmittel Veronal, lässt sich in deutschen Sanatorien behandeln und ist völlig verzweifelt – was sich auch in den Selbstporträts „Der Trinker“ und „Selbstbildnis als Soldat“ spiegelt.

 

Im Dezember 1916 bricht Kirchner erneut zusammen – und nun kommt Eberhard Grisebach (1880 – 1945) ins Spiel, Dozent für Philosophie an der Universität Jena und verheiratet mit Lotte Spengler, älteste Tochter des Davoser Arztes Dr. Lucius Spengler und dessen Frau Helene. Grisebach hatte Kirchner 1914 in Jena kennen und schätzen gelernt, als er dort dessen erste Einzelausstellungen organisierte. Nun macht er sich Sorgen um den gebrochenen Mann: „Kirchner muss vom Veronal freikommen, sonst geht er zu Grunde“, schreibt er am 15. November 1916 an seine Davoser Schwiegereltern. Und die reagieren prompt, helfen Wege zu ebnen, sodass Kirchner von Deutschland nach Davos reisen kann. Am 19. Januar 1917 kommt er dort an und quartiert sich in die Pension Wijers gegenüber dem Haus der Spenglers ein. Kirchner ist am Ende. Lebensmüde klagt er über die Kälte, will gar nicht aufstehen und ist unzufrieden mit Dr. Lucius Spengler, weil dieser ihm kein Veronal gibt. In den ersten Tagen isst er nichts, raucht nur und trinkt Kaffee. Zwei Wochen hält er es in Davos aus (das ausgerechnet bei seinem Aufenthalt den kältesten Winter seit 20 Jahren erlebt), dann flüchtet er zurück nach Berlin. „… Kirchner reist zurück, er dachte sich, Davos liege im Süden unter Palmen! Wirklich. … Er ist eine Jammergestalt, die man nur bedauern kann. Dazwischen redet er so interessant, dass es einem doppelt leid tut um ihn…“, schreibt Helene Spengler am 1. Februar 1917 an Eberhard Grisebach

 

Ernst Ludwig Kirchner, 1919

 

Einige Monate später nimmt Kirchner einen neuen Anlauf. Am 8. Mai 1917 kommt er erneut in Davos an. Der Künstler ist immer noch schwerkrank, abhängig von Medikamenten und kann kaum ohne fremde Hilfe gehen. Die Hände zittern und sind zur Arbeit nahezu unbrauchbar. Helene Spengler kümmert sich mit eisernem Willen um ihn, ihr Mann übernimmt die Behandlung. Dr. Lucius Spengler ist nicht irgendwer, sondern Chefarzt des möndänen (und von Thomas Mann im „Zauberberg“ verewigten) Davoser Sanatoriums Schatzalp, das auf 1865 Metern Höhe residiert und seiner Zeit – u. a. mit Neuerungen wie Bodenheizung sowie fließendem Kalt- und Warmwasser in jedem Zimmer – weit voraus ist. Behandelt werden im Höhenkurort Davos vor allem Lungenkranke, so wie Eberhard Grisebach, der als Student an Lungentuberkulose erkrankt war und Davos nach fünfjährigem Aufenthalt 1909 als geheilt verlassen konnte. Nun nimmt Dr. Lucius Spengler Kirchner unter seine Fittiche. Der Arzt ist ein international renommierter Lungenspezialist, aber sein Maler-Patient leidet an keiner Lungenkrankheit. Vielmehr diagnostiziert Spengler sowohl eine Abhängigkeit von Veronal als auch von Morphium, das man Kirchner bei früheren Sanatoriumsaufenthalten in Deutschland verabreicht hatte – erst 1921 wird Kirchner von diesem Rauschmittel entwöhnt sein. Der Künstler hat seinen eigenen Willen.

 

Um der täglichen Kontrolle seiner Ärzte aus dem Weg zu gehen, sucht er einen Fluchtpunkt und findet ihn Ende Juni in der Rueasch-Hütte auf der Stafelalp oberhalb des Dorfes Frauenkirch südlich von Davos, wo er im Sommer 1917 unter den Bauern lebt, die dort oben im Sommer Viehwirtschaft betreiben. „Nun hat er seinen Willen und für 2 Monate bleibt er vielleicht dort. Er kann nun zeigen, ob er noch arbeiten will und gesund werden. Seit man ihm die Schlafmittel und den Alkohol !!! genommen hat, ist er viel schlapper, diese kratzten ihn zeitweise so auf, daß er zusammenhängend und lebhaft erzählte. Vorgestern fuhr er sich nur immer verzweiflungsvoll durch die Haare und bemühte sich, von mir wieder ein Gift zu erwirken…. Die Stafelalp hätte da viel zu klären…“, notiert Helene Spengler am 19. Juni 1917.

Doch die Eindrücke der Natur und die unendliche Ruhe wirken sich positiv auf Kirchners Psyche aus, sodass er trotz schlechtem Gesundheitszustand auf der Stafelalp künstlerisch sehr produktiv ist. So entstehen im ersten Sommer in den Davoser Bergen vier Ölbilder, elf Holzschnitte und mehrere Zeichnungen.

 

Nach einer längeren Unterbrechung – Kirchner verbringt ab dem 15. September 1917 fast ein dreiviertel Jahr in einem Sanatorium in Kreuzlingen – kehrt er am 15. Juli 1918 auf die Stafelalp zurück, um dort im Herbst ein Bauernhaus der Hofgruppe „In den Lärchen“ zu beziehen, das er bis 1923 bewohnt. „So lebe ich hier ganz ruhig und wohlbesorgt … Ich wohne in einem schönen alten Bündnerhaus mit einer Küche wie das Atelier Rembrandts … “ schreibt er.

Im Jahr 1918 erstellt Kirchner auf der Stafelalp neben mehreren Ölbilder mit Themen aus dem Alpleben der Bauern auch eine Gruppe von Aquarellen– darunter vorliegende Arbeit. Diese auf der rauen Rückseite bräunlichen Packpapiers aufgebrachten Werke versieht er zumeist nur mit einem Monogramm (wie bei unserem Blatt rechts unten), da er erst im Herbst 1919 wieder schreiben kann. Die mittige Signatur am Unterrand unseres Aquarells „E L Kirchner“ fügt der Künstler vermutlich später hinzu, als er das Blatt Dr. Lucius Spengler schenkt. Bis heute verblieb diese bedeutende Arbeit, die ein Zeugnis von Kirchners Ergriffenheit von der Schweizer Berglandschaft ist, im Besitz der Familie. Neue Umwelt.

 

Die Stafelalp wird zum Fixpunkt von Kirchners Umwelt- und Naturerfahrung in den Davoser Bergen. Am Ende erholt sich Kirchner in Davos vom körperlichen Zusammenbruch der Kriegsjahre und kann dank guter und rigoroser ärztlicher Behandlung auch die Abhängigkeit vom Morphium überwinden.

Davos leitet für Kirchner eine neue Schaffensphase ein. Thema ist nun nicht mehr die Großstadt, sondern die Welt der Berge und ihrer Bewohner. Der Maler lässt die für ihn völlig neue Umgebung unmittelbar auf sich wirken und gibt sich mit geradezu fanatischer Intensität bis etwa 1920 dem Naturstudium hin, um sich die neue Umwelt zu erobern, die ihm immer wieder neue Motive liefert. Besonders fasziniert ist Kirchner vom einfachen Leben der Bauern im Einklang mit der Natur. „Es ist ein stolzer Mensch der hier lebt. Die harte Arbeit, die mit grosser Liebe verrichtet wird, der Umgang mit den Tieren (man sieht sehr selten, dass ein Tier geschlagen wird) geben ihm die Berechtigung dazu. Die Arbeit hat hier in den meisten Fällen wirklich das Ideale, dass sie mit Liebe getan wird. Man sieht es den Handbewegungen an. Und das adelt wieder den Ausdruck der Gesichter und gibt die grosse Zartfühligkeit im persönlichen Verkehr. Wir haben hier das Land der Wirklichkeit gewordenen Demokratie. Hier gilt das Wort noch und man kann ganz ruhig bei offenen Türen schlafen. Ich bin so froh hier sein zu dürfen und möchte durch harte Arbeit den Menschen für das Gute, das sie mir erweisen, danken“, schreibt Kirchner am 8. Oktober 1918.

 

Mit den Sujets verändert Kirchner auch seinen Stil. Begeistert von der „herben Monumentalität der Berglinien“, stellt er die Berge nicht einfach nur dar, sondern dynamisiert die Kraftlinien ihrer Konturen, ihrer Grate, Gipfel, Joche und Täler in heftigen Strichlagen. Dabei ist das Majestätische der Berge für den Künstler nicht statisch, vielmehr ist die eindrucksvolle Natur mit ihren wechselnden Lichtspielen in dauerhafter Bewegung. Kirchner malt die übermächtigen Berge auch nicht aus touristischer Perspektive, sondern aus der Sicht ihrer Bewohner – was unser Blatt in ausdruckskräftiger Vitalität unterstreicht.


NACKTE NATUR


 

 


 

ERNST LUDWIG KIRCHNER
1880 Aschaffenburg - 1938 Davos

Berganemonen (Pelzanemonen). 1920er Jahre

 

 Aquarell über Bleistift auf chamoisfarbenem Zeichenpapier
35 x 46,5 cm

AUKTION 408 // 1510
SCHÄTZPREIS € 10.000 - 15.000

Das Aquarell ist wohl auf dem Wildboden in Davos in den 1920er Jahren entstanden. So schreibt Kirchner unter dem Pseudonym Louis de Marsalle 1922 im Katalog seiner Ausstellung bei Ludwig Schames in Frankfurt am Main über seine Arbeiten jener Zeit auf der Stafelalp: „Die karge und doch so intime Natur des Hochgebirges hat einen großen Einfluß auf den Maler gehabt. Sie hat seine Liebe zu den Gegenständen vertieft und gleichzeitig seine Konzeption von allem Nebensächlichen gereinigt. Nichts Unnötiges erscheint auf den Bildern, aber wie zärtlich ist jedes nötige Detail durchgearbeitet! Stark und nackt tritt in der fertigen Arbeit der schöpferische Gedanke hervor.“

Ernst Ludwig Kirchner bediente sich der fiktiven Person de Marsalle, um über sich selbst zu schreiben und baute sie zum Zwecke der Kommerzialisierung als Kunstkritiker auf. Als das Vertrauen zur Existenz de Marsalles in Kunstkreisen rund um Kirchner mit der Zeit schwand, weil ihn niemand kannte, ließ Ernst Ludwig Kirchner de Marsalle Anfang 1933 sterben.

GUSTAV KLIMT ALS PRÄGENDER MALER DES JUGENDSTILS

Von NEUMEISTER-Expertin Ipek Blask M. A.


LIEBE. TOD. FRIEDEN. ANGST