PROVENIENZFORSCHUNG IST CHEFSACHE

SAG MIR, WER DU BIST!

 

 

Wie spannend, anregend und zielführend Provenienzforschung sein kann, zeigt Franz von Lenbachs Bildnis der Katia Pringsheim. Katrin Stoll, geschäftsführende Gesellschafterin bei NEUMEISTER, zur Geschichte des Porträts und über die Schwierigkeiten und Chancen im Umgang mit NS-Fluchtgut.

 

 

Was ist auf dem Bildnis zu sehen?

Ein Mädchen im Halbprofil. Dunkles Haar, rote Kappe, wacher Blick. Das kleine Gemälde – Öl auf Karton, 41,5 × 35,5 Zentimeter – zeigt Katia Pringsheim, einzige Tochter der Eheleute Alfred und Hedwig Pringsheim – und spätere Ehefrau des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann.

Wer hat das Bild wann gemalt?

Das vorliegende Bild „Ein reizendes Köpfchen“ („Mädchenbrustbild“) wurde 1892 von Franz von Lenbach erstellt. Der berühmte Münchner Maler hat das Bildnis in einem für seine Porträts typischen Duktus mit einem spielerischen, nahezu flirrenden Wechsel von Akzentuierung und Lichtführung, aber auch nur vage angedeuteten Partien meisterhaft umgesetzt. Lenbach fertigte zahlreiche Porträts von Mitgliedern der Familie Pringsheim an. Diese sehr wohlhabende, angesehene und kunstsinnige Familie residierte am Königsplatz in einem prachtvollen Palais, das um die Jahrhundertwende als einer der wichtigsten Treffpunkte der kulturellen und intellektuellen Elite in München galt. Neben Alfred Pringsheims bedeutender Majolika- und Silbersammlung war dort auch ein großer Wandfries des Malers Hans Thoma zu bewundern. Und naheliegend, dass man Franz von Lenbachs benachbarter Künstlervilla gerne einen Besuch abstattete – was auch die Tagebuchaufzeichnungen Hedwig Pringsheims eindrucksvoll belegen.

Wie gelangte das Gemälde zu NEUMEISTER?

Das Bildnis stammt aus dem Nachlass einer älteren Münchner Dame. Sie hat es ihrem Neffen, einem in den USA lebenden Geschäftsmann, vererbt. Dessen Großeltern hatten das Gemälde 1940 als „Mädchenbildnis“ – ohne Provenienzangabe – gutgläubig erworben. Der Eigentümer lieferte das Werk am 3. August 2018 bei NEUMEISTER zur Auktion ein. Am 5. Dezember 2018 sollte es bei uns versteigert werden. Doch es kam anders… Am Vormittag des Auktionstages meldete sich Dr. Dirk Heißerer bei mir. Der angesehene Thomas-Mann-Forscher versicherte glaubhaft, dass es sich bei dem Porträt um Katia Pringsheim handelt, genauer: um eine Variante bzw. Vorstufe eines zeitgleich entstandenen Porträts, das als Titelbild zu Katia Manns, 1974 erschienenen Buch „Meine ungeschriebenen Memoiren“ verwendet und dadurch weithin bekannt wurde. Die Ähnlichkeit der beiden Werke ist wirklich erstaunlich.

Und dann?

Die Geschäftsleitung entschied, das Gemälde sofort aus der Auktion zu nehmen. Wir hatten es plötzlich ja mit einer völlig neuen Situation zu tun. Aufgrund der neuen Erkenntnisse geriet das Bild nun in einen ganz anderen kulturhistorischen Kontext.

Wie ging es weiter?

Wir haben den Einlieferer umgehend informiert und sind der These von Dr. Heißerer weiter nachgegangen. Dieser regte an, das Gemälde dem Thomas-Mann-Forum München zu übereignen. Gleichzeitig kam auch die Idee auf, eine Schenkung an das Thomas Mann House in Pacific Palisades in Betracht zu ziehen. Bevor hierzu eine Entscheidung getroffen werden konnte, war es mir aber wichtig, die Provenienz des Gemäldes weitestgehend zu klären. Dies war meiner Ansicht nach die Voraussetzung für jede weitere, juristisch belastbare Vorgehensweise.

Welche Erkenntnisse brachte die Provenienzforschung?

Da müssen wir kurz zurück zu den Anfängen. Das jüdische Ehepaar Alfred und Hedwig Pringsheim konnte erst Ende Oktober 1939 in buchstäblich allerletzter Minute aus Nazi Deutschland in die Schweiz ausreisen und dabei nur Weniges an Hab und Gut mitnehmen. Ihre Kunst, darunter auch die berühmten Silber und Majolika-Sammlungen – wurden zwangsversteigert bzw. beschlagnahmt. Das „Mädchenbildnis“ erwarben die Großeltern des Eigentümers am 7. Februar 1940 für 3.000 Mark von einem Kunsthändler namens Franz Hanold. Auf der erhaltenen Kaufquittung ist zu lesen, dass das Gemälde auf Holz gemalt sei. Bei Untersuchungen in unserem Hause stellte sich jedoch heraus, dass es auf Pappe gemalt ist. Zudem stießen wir unter einer Holzplatte, die die Rückseite des Bildnisses verdeckte, auf einen blauen, rudimentär erhaltenen Schriftzug „Pringsheim“ – hier hatte jemand womöglich versucht, den Namen auszuradieren. Jetzt war es mir ein besonderes Anliegen, die Provenienz lückenlos zu dokumentieren.

Was hieß das denn konkret?

Es ging nun darum zu prüfen, ob es sich bei unserem Gemälde um NS -Raubgut handelte. Und dazu muss ich etwas ausholen. Am 3. Dezember 1998 unterzeichneten 44 Staaten, darunter auch Deutschland, die „Washington Principles". Dabei handelt es sich um eine rechtlich nicht bindende Übereinkunft, um die während der NS -Zeit beschlagnahmten Kunstwerke der Raubkunst zu identifizieren, deren Vorkriegseigentümer oder Erben ausfindig zu machen und eine „gerechte und faire Lösung“ zu finden. Deutschland folgte dieser Selbstverpflichtung mit einer „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS -verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom 9. Dezember 1999 sowie einer „Handreichung zur Umsetzung der Washingtoner Erklärung“. Hierin sind (nur) die öffentlichen Einrichtungenalso Museen, Bibliotheken, Archive angehalten, ihre Bestände gemäß der Washington Principles aufzuarbeiten und faire und gerechte Lösungen zu suchen.

Aber inwiefern betraf das den Kunsthandel?

Auktionshäuser sind doch keine öffentlichen Einrichtungen? Das ist genau der Punkt! Und es kommt noch besser: Das am 6.8.2016 in Kraft getretene Kulturgutschutzgesetz, das den Umgang mit Artefakten jeglicher Art regelt, hält den Kunsthandel unter Androhung von Strafe an, eine lückenlose Dokumentationskette vorzulegen und eine Umkehr der Beweislast. Dies ist aber, wie der vorliegende Fall des Lenbach -Gemäldes zeigt, nicht immer möglich – durch Krieg, Migration oder andere Umstände sind Aufzeichnungen oder Nachweise oft einfach nicht mehr vorhanden. Das ist dann aber ein grundsätzliches Problem. Ja. Die Verantwortung der lückenlosen Dokumentation wird an die privaten Eigentümer von Kunstwerken und den Kunsthandel delegiert – und das ist für viele aufgrund der Kosten und des Aufwandes einfach nicht leistbar. Es fehlt aktuell an praxisorientierten Instrumenten, um in der häufig wirren und komplexen Ausgangslage pragmatische Lösungsansätze zu finden. Bislang gibt es nur die pauschale Auflage, sich an die Washingtoner Erklärung zu halten, konkrete Hilfen werden nicht angeboten. Mehr als 75 Jahre nach dem Untergang des NS -Regimes wünschen wir uns hier vom Gesetzgeber klare Vorgaben. Ein Restitutionsgesetz mit genau definiertem Regelwerk für die Praxis ist überfällig.

Welche Rolle spielt Provenienzforschung grundsätzlich bei NEUMEISTER?

Provenienzforschung ist für mich ein persönliches Anliegen, und die Herstellung von Rechtssicherheit für unsere Kundschaft ist Teil der NEUMEISTER -DNA. Sollte es auch nur den Hauch eines Zweifels oder eine Unklarheit geben, so erfolgt umgehend eine sorgfältige Prüfung durch unser Haus. Dazu leiste ich mir den Luxus eines großen Experten -Teams, das mit Archiven, Datenbanken und weiteren relevanten Institutionen eng vernetzt ist. NEUMEISTER hat bei der Provenienzforschung Maßstäbe gesetzt, auch was die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit betrifft, die ich ausführlich erforschen ließ. Provenienzforschung ist bei uns Chefsache!

Außenansicht des
Thomas Mann Hauses in
Pacific Palisades.
Thomas Manns Arbeitszimmer in Kalifornien.

Hier, in der rechten hinteren Ecke, wird Franz von Lenbachs „Reizendes Köpfchen“ gehängt werden – genau dort, wo die zweite Fassung des Bildnisses einst hing, die heute in der ETH Zürich aufbewahrt wird (Nachlass Thomas Mann).

 

 

Pacific Palisades

Wie Adorno, Brecht, Döblin, Feuchtwanger oder Werfel war Thomas Mann auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Deutschland an der südkalifornischen Riviera gelandet. Nachdem er bereits seit 1938 an der US-Ostküste gelebt hatte, zog Thomas Mann 1941 nach Pacific Palisades (Los Angeles) und errichtete dort ein Jahr später ein Haus, in dem er mit seiner Familie bis 1952 lebte; in diesen Jahren sollte das Anwesen zu einem Ort künstlerischen Schaffens und intellektuellen Aus - tauschs werden. In seinem „Weißen Haus des Exils“ – so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeierthematisierte Thomas Mann in Essays und Büchern die drängenden politischen Probleme seiner Zeit sowie die Frage nach einem gemeinsamen Wertefundament der westlichen Demokratien. Im November 2016 erwarb das Aus - wärtige Amt das vom Abriss bedrohte Haus für die Bundesrepublik Deutschland, um es in Trägerschaft des Vereins Villa Aurora & Thomas Mann House zu einem Ort des Nachdenkens und der Diskussion über gemeinsame Herausforderungen unserer Zeit wiederzubeleben. Die zweistöckige Villa wurde umfassend renoviert und macht die Architektur von Julius Ralph Davidson, der das Haus 1941 erbaute, wieder erlebbar. Ausgestattet mit federleichten Klassikern (Vitra, Walter Knoll, Jan Kath, Occhio, Ingo Maurer, Thonet) ist sie nicht nur ein Ort der Kultur, sondern auch des Designs.